Kompass im Kopf

Vögel orientieren sich mithilfe des Magnetfelds der Erde, Wüstenameisen nutzen das Polarisationsmuster des Himmels, Wale den Ultraschall. Und der Mensch? Welche Anhaltspunkte nutzen wir, um uns in der Umwelt zurechtzufinden?

"Vor dem Rathaus links, am Brunnen vorbei den Berg hoch, dann wieder rechts". Wenn Sie jemanden so murmelnd durch die Straßen laufen sehen, dann könnte es daran liegen, dass der Spaziergänger die neuesten Erkenntnissen einer Tübinger Forschungsgruppe nutzt. Tobias Meilinger und Kollegen vom Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik in Tübingen haben herausgefunden, dass Menschen nicht nur ihr bildliches und räumliches Gedächtnis aktivieren, um sich neue Wege einzuprägen, sondern auch – und sogar sehr erfolgreich – die Sprache. Diese Erkenntnis verdanken die Wissenschaftler einem trickreichen Experiment, für das sie die idyllische Tübinger Altstadt ins Labor holten.

Im Altstadtlabyrinth

Im "virtuellen Tübingen" steht die Versuchsperson vor einer 220 Grad umfassenden, menschenhohen Leinwand und schaut auf die fotorealistische Abbildungen des Tübinger Marktplatzes. Mithilfe eines Joysticks kann man in der virtuellen Stadt spazieren gehen. Am Neptun-Brunnen vorbei, die Haaggasse hoch, am Jazzclub und der Wand mit den halb abgerissenen Plakaten entlang, zweimal rechts und wieder zurück an der Ammer entlang. In ihrem Experiment wiesen die Forscher Versuchspersonen, die noch nie in Tübingen waren, einen Weg durch das virtuelle Tübingen und baten sie anschließend, diesen Weg erneut "abzuschreiten".

 

Orientierungsforscher im Labor

Nach und nach bannt der Computer "virtual Tübingen" auf die Leinwand.

 

Um herauszufinden, welche Denkleistung dabei am meisten gefragt wird, störten sie den Lernfluss bei der Erkundung des Weges auf drei Arten. Eine Gruppe sollte sich die Zeiger einer Uhr bildlich vorstellen, die zweite Gruppe Wörter erkennen und die dritte Gruppe die Herkunft eines Tones im Raum bestimmen. Jede dieser Aufgaben diente dazu, ein bestimmtes Gedächtnissystem – das visuelle, das verbale und das räumliche – so zu beschäftigen, dass die Versuchsteilnehmer es nicht mehr zur Lösung der Wegfindungsaufgabe heranziehen konnten. Das System, das am wichtigsten für die Orientierung ist, sollte auch am anfälligsten für eine Störung sein. "Das Ergebnis dieses Versuchs hat mich verblüfft", gibt Tobias Meilinger zu. Am schlechtesten konnten die Versuchspersonen den gelernten Weg wiederfinden, deren Sprachgedächtnis gestört wurde. „Vermutlich murmeln wir die Wegbeschreibung innerlich vor uns hin, und erinnern uns so an die Route", erklärt Tobias Meilinger. Das erlaubt, so das Ergebnis weiterer Untersuchungen, sogar eine bessere Wegfindung, als wenn man versucht, sich die Geometrie einer Straßenkarte bildlich einzuprägen.

Orientierungskünstler

Sich an eine Route zu erinnern, ist nur eine der Fähigkeiten unseres Orientierungssinnes. Wissenschaftler nennen es das Routenlernen. "Vermutlich greifen rund 70 Prozent der Menschen auf diese Strategie zurück", erklärt Stefan Münzer, Psychologe und Orientierungsforscher an der Universität Saarbrücken. Sie merken sich Abzweigungen und wichtige Landmarken und basteln daraus eine Route. Das funktioniert gut, solange man nicht die falsche Abzweigung erwischt. Cleverer stellen sich dagegen die restlichen 30 Prozent an. "Diese Menschen fangen sofort an, sich einen Überblick zu verschaffen", sagt Münzer. Das heißt, sie eignen sich ein Richtungswissen an. In welchem Winkel stehe ich zu wichtigen Landmarken wie etwa Kirchturm oder Fluss? In welcher Himmelsrichtung liegt mein Ziel? Wer sich solche Fragen richtig beantworten kann, der kann auch neue Wege gehen. Statt "am Kaufhaus links", sagen sich die Orientierungskünstler „45 Grad in nördliche Richtung“ oder "parallel zum Fluss". Menschen, die sowohl das Routen- als auch das Überblickswissen zur Orientierung nutzen, finden sich am besten zurecht. Sie können besser Karten zeichnen und Karten lesen. Und – sie sind oft männlich.

Räumliches Memory

"Ich bin keine gute Kartenleserin", gibt Sue Healy unumwunden zu. Die Biologin von der Universität im schottischen Edinburgh untersucht Geschlechterunterschiede im Orientierungssinn bei Mensch und Tier und bestätigt mit ihrem neuesten Experiment ein altes Vorurteil. Sie ließ 21 Männer und 26 Frauen eine Art Memory-Aufgabe am Computer lösen. Dabei mussten sich die Versuchspersonen die räumliche Anordnung von zehn Quadraten auf dem Bildschirm merken. Nach einer kurzen Pause testete Sue Healy das Erinnerungsvermögen der Teilnehmer für die Verteilung der Quadrate. Dabei schnitten Männer deutlich besser ab als Frauen. In einem zweiten Experiment ersetzte Healy die Quadrate durch kleine Abbildungen. Männer nutzten zur Lösung der Aufgabe sowohl die räumliche als auch die visuelle Information. Frauen bevorzugten dagegen ganz klar die Abbildungen. "Frauen"; so Healy, "das haben andere Untersuchungen gezeigt und das bestätigt auch unser Experiment, "orientieren sich eher an Landmarken, Männer nutzen dagegen Landmarken und räumliche Zusammenhänge."

Biologie oder Vorurteil?

Seit den 80er Jahren finden Wissenschaftler Unterschiede in den räumlichen Fähigkeiten von Mann und Frau. In rund der Hälfte der Studien sind Männern den Frauen überlegen. Keine andere Denkleistung zeigt solch große Geschlechterunterschiede. Warum wir uns unterscheiden, ist Anlass wilder Spekulationen. Biologen bemühen die Evolutionsgeschichte, Neurologen deuten auf die unterschiedlichen Aktivitätsmuster im Gehirn, Psychologen betonen die unterschiedliche Kapazität des räumlichen Arbeitsgedächtnisses und manche Forscher zweifeln, ob es überhaupt einen Unterschied gibt. Die Neurowissenschaftlerin Maryjane Wrage vom Smith College in Northhampton, USA, ließ männliche Versuchspersonen vor einem mentalen Rotationstest wissen, dass Männer in dieser Aufgabe grundsätzlich schlechter seien als Frauen. Prompt sank deren Leistung. Umgekehrt schnitten Frauen besser ab, wenn sie mit dem Glauben in den Test gingen, dass sie darin den Männern überlegen seien. Der Geschlechterunterschied, den man normalerweise in diesen Aufgaben findet, verschwand durch die Umkehrung der soziokulturellen Vorurteile.

Training schafft Überblick

"Ein guter Orientierungssinn hat auch etwas mit Selbstvertrauen zu tun", bestätigt Brigitte Grüniger. Die Sportlerin ist viermalige schweizer Meisterin im Orientierungslauf. Dabei suchen sich die Läufer per Karte und Kompass einen Weg durch unwegsames Gelände. Einen Unterschied zwischen Männern und Frauen hat die Schweizerin dabei noch nicht ausgemacht. Vielmehr macht die Übung den Meister. "Durch den Sport hat sich mein Erinnerungsvermögen und mein Orientierungssinn verbessert", berichtet Grüniger. Wie wichtig Training für den Orientierungssinn ist, betonen auch Tobias Meilinger und Stefan Münzer. "Wenn wir unterwegs sind, sollten wir hin und wieder unseren Richtungssinn auf die Probe stellen", empfiehlt Münzer. In welcher Richtung liegt der Fluss, das Rathaus, die Kirche? Mit einem Blick auf die Karte kann man die eigenen Angaben überprüfen und sein Überblickswissen mit der Zeit verbessern. Aber auch wer sich mit der Richtungsbestimmung schwer tut, muss sich keine Sorgen machen. "Egal mit welcher Strategie", so Meilinger, "irgendwie kommen wir immer von A nach B."


Erschienen in leicht veränderter und gekürzter Form im Januar 2008 in der Apotheken Umschau .





    

    

       

 

Der Orientierungsforscher Tobias Meilinger unterwegs in seinem Labor.
Orientierung ist auch Erfahrungssache.
Frauen orientieren sich bevorzugt an Landmarken.
Dreißig Prozent haben den "Kompass im Kopf".
Es hilft, seinen Orientierungssinn öfter mal auf die Probe zu stellen.
"Irgendwie kommen wir immer von A nach B"
Foto: Sven Hoope / Fotolia.de
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