Japans billige Betten

Mit lautem Getöse rumpelt die S-Bahn über den Köpfen der Passanten. Die kleinen Buden unter der S-Bahn-Brücke zittern, als würden sie gleich zusammenstürzen. Niemand lässt sich davon beirren. Die improvisierten Tische vor den Imbissen sind dicht besetzt. Es riecht nach Fisch und Innereien, nach Sake und Bier. Ich bin in Ueno, einem zentral gelegenen Stadtviertel Tokios.

Ich verfolge seit mehreren Monaten eine Mission: Die Suche nach dem billigsten und romantischsten Hotel Tokios. Um es kurz zu machen es gibt nicht nur eines von der Sorte, es gibt Hunderte.

Zu billig!

"Nein, da können Sie auf keinen Fall übernachten", sagt freundlich, aber bestimmt, meine japanische Kollegin Sachiko und Beraterin in allen kulturellen Fragen. "Warum nicht?", frage ich überrascht. "Weil es zu billig ist". Diese Erklärung erstaunt zunächst, fasst aber eine Grundidee der japanischen Kultur zusammen: Nur was teuer ist, ist gut. Und da für einen Gast Japans nur das Beste gut genug ist, muss es teuer sein. Japaner wollen nicht, dass ausländische Gäste ihre Nächte in billigen, unkomfortablen Hotelzimmern verbringen. Das könnte ein falsches Bild vom gastfreundlichen, luxuriösen Hightechland Japan hinterlassen.

Verwiesen wird man an die zahlreichen gesichtslosen Hotels westlichen Stils, die genau mit den Preisen aufwarten, die der westliche Besucher erwartet und befürchtet. Ab 90 Euro verbringt man die Nacht in einem Hotel mit dem Charme einer Autowaschanlage. Penibel sauber und gut ausgerüstet geben sie einem das Gefühl, überflüssig zu sein. Kein guter Ort, um in das Land einzutauchen.

Zen oder die Kunst ein Hotelzimmer zu finden

Trotz der Warnung meiner Kollegin begebe ich mich erneut hinein in das Straßengewirr Uenos. Da Tokio die sicherste Stadt der Welt ist, gibt es keinen Grund, sich vor dieser Bahnhofsgegend zu fürchten. An einem mit dem Schriftzug "Hotel" versehenen hängt ein Schild mit einer Preisangabe: 2700 Yen, umgerechnet 22 Euro. Mehr als diese Zahl kann ich allerdings nicht lesen.

Die Frau am Empfang versteht kein Wort englisch, geschweige denn deutsch. Ich deute mit dem Finger auf die Zahl an der Tür und danach auf eine der Zimmertüren des Hotels. Sie schüttelt den Kopf. Aber das ist normal. Es wird eine halbe Stunde dauern, es werden von der Toilettenfrau bis zum Jungen, der das Aquarium putzt, alle Hotelmitarbeiter dazu kommen und mit diskutieren.

Eines von vielen: Hotel Nikko-kan

Sie alle werden den Kopf schütteln, sie werden mir Zettel schreiben mit Preisen, die mehr als das Doppelte zeigen von dem, was der Zettel an der Tür verspricht. Aber ich bin nicht zum ersten Mal auf Hotelsuche und weiß, dass ich auch diesmal mein 22-Euro-Zimmer bekommen werde. Auch wenn es halb Japan peinlich ist, einer Deutschen, ausgerechnet einer Deutschen, ein Zimmer zu geben, indem sich kein klassisches westliches Bett befindet, kein Satellitenfernsehen und keine Toilette mit elektrisch beheiztem Toilettensitz.

Eintauchen in den Film Japan

Was mich erwartet, mutet wie die leicht verblichene Filmkulisse eines alten japanischen Schwarzweißfilms an. Das Zimmer ist mit Tatamimatten ausgelegt und der leichte Heugeruch vermischt sich wohltuend mit dem Duft des grünen Tees, der auf jedem Zimmer bereit steht. Ein kleines Fenster lenkt den Blick nur einen Meter weiter bis zur nächsten Häuserwand. Doch der Blick nach außen erscheint unnötig. Aus dem Nachbarzimmer hört man leise Stimmen und Gläserklingen.

Ein japanisches Wort für Privatsphäre gibt es nicht. Das Haus nimmt einen auf wie ein trockener Schwamm Wasser. Auf dem Gang zur Toilette treffe ich meine Mitbewohner, die angesichts der unzähligen Bars in der Umgebung in aufgeschlossener Laune, aber nie aufdringlich sind. Schon nach einer Nacht auf dem weichen Futon und einem preiswerten Frühstück beim Italiener um die Ecke fühle ich mich heimisch.

Love Hotels und Schlafboxen

Es gibt keine Möglichkeit, Zimmer in diesen kleinen Hotels zu reservieren. Auch Anrufe oder Faxe auf japanisch helfen nicht weiter. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ab 12 Uhr mittags ist Einlass und ich habe noch nie erlebt, dass jemand abgewiesen wurde. Und wenn es doch mal zu spät oder voll sein sollte, gibt es ein paar Ecken weiter Hotelboxen, "Capsule Hotels", in denen man sich wie in ein Schließfach einschließen kann, oder die rund um die Uhr geöffneten Love Hotels. Die sind allerdings nicht halb so aufregend, wie es sich unsere abendländische Fantasie vorstellt.

Auch im Rest des Landes lassen sich preiswerte und typisch japanische Hotelzimmer finden. Es braucht nur etwas Neugier, Vertrauen und Geduld. Hilfreich ist die Suche im Internet.

Berge, Schnee und heiße Quellen

Unter der Eingabe "onsen", damit sind die heißen Quellen gemeint, und "hotel" erhalte ich neue Hinweise für meine Suche nach romantischen und bezahlbaren Hotels. Zum Erstaunen meiner Gastgeberin buche ich telefonisch (eine japanische Freundin assistiert) eine Nacht in einem Hotel, inklusive Abendessen, Frühstück und Besuch der Heilquelle für 65 Euro. Normalerweise zahlt man für eine Nacht in einem Hotel mit Thermalbad über 150 Euro. Das muss nicht sein. Aber wenn man in Japan ist, muss man in einen Onsen. Am Besten im Winter, am Besten in den Bergen, am Besten zu zweit.

Geheimtipp in den japanischen Bergen

Nach geduldiger Suche erreichen wir mit unserem Mietwagen das abgelegene Onsen Akadaki, circa fünf Stunden nordöstlich von Tokio. Das Hotel ist in Familienbesitz und die gesamte Familie begrüßt uns in sichtlicher Aufregung. Nicht-Japaner verirren sich nur selten hierher und heute sind wir sogar die einzigen Gäste. Es liegt Schnee und vor unseren Gesichtern verdampft der Atem. Die Wände des Zimmers sind aus Holz und Papier. Durch das Papier schimmert der Wald.

Akadaki Kosen

Akadaki Kosen - verwunschener Ort in den Bergen

Wir haben ein geräumiges Zimmer, das durch Schiebetüren in einen Wohn- und Schlafraum unterteilt ist. Im Wohnraum steht nichts außer einem Tisch. Dieser ist allerdings überlebensnotwendig. Das Haus hat, wie viele japanische Wohnungen, keine Heizung. Warm ist es nur unter dem Tisch, in den eine Heizdecke integriert ist. Der Rest des Körpers wird durch dicke Winterjacken warm gehalten. Nach einem köstlichen und liebevoll zubereiteten Abendessen ist es dann soweit. Die Zähne klappern immer noch. Die Hände - wenn sie nicht gerade eine dampfende Tasse grünen Tees umklammern - sind weiß vor Kälte. Wir steigen in das über 40 Grad heiße Wasser der Heilquelle.

Auf unsere erstickten Schreie, "Its too hot", kommt lachend und ungeniert die Großmutter dazu und versichert uns, das muss so sein. Was Japaner im Babyalter lernen, holen wir in wenigen Sekunden nach. Heißes Wasser entspannt. Einfach loslassen, seufzen und spüren, wie sich jeder verspannte Muskel unter der Gewalt der Hitze ergeben muss. Ohne Bewegung verharren wir zehn Minuten in dem dunklen rötlichen Heilwasser. Anschließend versinken wir wohlig warm im Futon.

Das Geheimnis ist gelüftet

Auch wenn es die japanische Tourismusbehörde zu verheimlichen sucht: es gibt eine große Anzahl billiger Hotelzimmer in Japan und speziell in Tokio. Hören Sie nicht auf japanische Bekannte oder Pauschalreiseveranstalter, verlassen Sie sich auf Ihre eigene Spürnase. Sprachprobleme werden mit Hilfe der gastfreundlichen Japaner spielend überwunden und bei einem Glas grünem Tee knüpft man ohne Worte Freundschaften.

 

Erschienen 2002 auf Spiegel.de


    

 


        

 

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