Jeder hat seine eigene Zeit

Zeit lässt sich ähnlich schwer erforschen wie das Bewusstsein. Doch die Wissenschaft versteht immer besser, wie wir Zeit wahrnehmen.

Jörg Umkehrer, 41, hat einen verantwortungsvollen Posten als Managementberater bei einer Allgäuer Firma. Der Satz "Ich hab jetzt keine Zeit, bin im Stress", kommt ihm jedoch nicht über die Lippen. Jörg Umkehrer hat sich konsequent um seine Zeit gekümmert. Er arbeitet weniger, nimmt dafür einen geringeren Lohn in Kauf, und – er meditiert regelmäßig. An eine Meditation kann er sich besonders gut erinnern: Ihm kam es vor, als habe sie gerade mal fünf Minuten gedauert, dabei war bereits eine Stunde vergangen. "Das war ein gutes Gefühl. So als ob ich aus der Zeit herausgetreten wäre", erinnert sich der Allgäuer.

Es scheint, als ob wir bestimmen könnten, wie schnell unsere Zeit vergeht. Ein Paradox angesichts des klassischen Konzepts in der Physik, die Zeit als ein lineares, regelhaftes und kontinuierliches Phänomen beschreibt. Woher kommt unser subjektives Zeitgefühl? Wie nehmen wir Zeit wahr?

Elementarteilchen der Wahrnehmung

"Von Wahrnehmung im klassischen Sinne kann man eigentlich nicht sprechen", berichtet der Zeitforscher Prof. Rolf Ulrich von der Universität Tübingen. Wahrnehmung setzt immer einen physikalischen Reiz voraus – Lichtwellen beim Sehen oder Luftdruckschwankungen beim Hören. Aber es gibt kein Wahrnehmungsorgan für die Zeit. "Zeit muss in unserem Kopf erst konstruiert werden", betont Ulrich.

Zeit geschieht durch kleinste Veränderungen. Ein Lidschlag, ein Geräusch, ein Ticken auf das ein nächstes Ticken folgt. Allerdings hat unser Gehirn kein Millisekunden-genaues Messsystem, um diese Ereignisse in eine zeitliche Abfolge zu bringen. Denn trifft ein Ton auf unser Ohr, so braucht unser Gehirn 30 bis 50 Millisekunden bevor es einen nachfolgenden Ton erkennen kann. Zudem benötigen die verschiedenen Sinnessysteme unterschiedlich lange für die Reizverarbeitung: ein Ton beispielsweise deutlich länger als ein optischer Eindruck. Trotzdem haben wir nicht das Gefühl, in einem schlecht synchronisierten Film zu leben. Wir fassen einfach alles gemeinsam in ein rund 30 Millisekunden langes Zeitpaket und sparen uns aus Gründen der Logik eine Feinauflösung. Zeit ist in unserem Gehirn also kein steter Fluss im Sinne des klassisch physikalischen Weltbildes, sondern eine Folge von abgegrenzten aufeinanderfolgenden Paketen.

Diese Zeitpakete fasst unser Gehirn zu einer größeren Einheit von zwei bis drei Sekunden zusammen. "Das ist unser Gegenwartsfenster", beschreibt der Zeitforscher Prof. Ernst Pöppel der Universität München. "Unsere Wahrnehmung scannt die Umwelt wie ein Leuchtturm alle paar Sekunden nach neuen Eindrücken ab. Gibt es nichts Neues, schafft sie sich etwas". Ein Beispiel ist der Necker-Würfel. Beim Betrachten des Würfels wechselt die Perspektive alle drei Sekunden – ob man will oder nicht (siehe Bild).

"Es ist schwer zu verstehen, aber man sollte nicht vergessen", betont Prof. Pöppel, "dass das, was man sieht oder hört die Zeit nicht aus sich selbst heraus bestimmt. Erst wenn ich meine Aufmerksamkeit darauf richte, füllen sich die vom Gehirn zur Verfügung gestellten Zeitbehälter mit Inhalt." Bleiben sie leer, vergeht zwar äußerlich Zeit, aber innerlich scheint die Zeit stehen zu bleiben, wir spüren Langeweile.

Sanduhr oder Orchester?

Und woher weiß unser Gehirn nun, wie viel Zeit vergangen ist? Nach dem „Schrittmacher-Zähler-Modell“ besitzt das Gehirn einen Taktgeber, der regelmäßige Impulse losschickt. Diese werden vorübergehend wie in einer Sanduhr gesammelt und gezählt. Manche Reize aktivieren unser Gehirn stärker als andere und produzieren daher eine größere Menge an Impulsen. So verlängert etwa ein Wechsel des Reizes unsere Zeitwahrnehmung. Verfärbt sich der Zeiger einer Uhr für einen Augenblick von schwarz nach rot, erscheint es uns, als würde der Zeiger plötzlich langsamer gehen.

"So lässt sich beispielsweise auch erklären, warum uns beim Spazierengehen der Hinweg länger als der Rückweg vorkommt", erläutert Prof. Rolf Ulrich. Während unser Gehirn auf dem Hinweg ständig neue Reize wahrnimmt und so eine große Anzahl von Eindrücken generiert, kommt uns auf dem Rückweg schon vieles bekannt vor. Die Eindrücke und die Impulsrate nehmen ab – unsere innere Uhr misst eine kürzere Zeit.

"Das Schrittmacher-Zähler-Modell liegt im Sterben", behauptet jedoch Dean Buonomano, Neuroforscher der Universität in Kalifornien. Er schlägt ein radikal anderes Modell vor. Demnach gibt es keine zentrale Sanduhr im Kopf. Vielmehr ist das Gehirn in der Lage, aus den sich stetig wechselnden Systemzuständen des Nervengeflechts die Zeit herauszulesen. Der Forscher vergleicht das mit einem Orchester. Im Gehirn spielen viele Musiker gleichzeitig und doch unterscheidet sich ein Stück der Symphonie von einer Zeitpunkt zum nächsten. Dadurch kann das Gehirn Zeitintervalle unterscheiden. "Handfeste Beweise gibt es für dieses so genannte Nicht-Uhr-Modell allerdings nicht", gibt Prof. Ulrich zu Bedenken.

Mehr Zeit durch Auszeit

Wie auch immer der Streit der Modelle ausgeht, einig sind sich die Wissenschaftler, dass Zeit in unserem Gehirn konstruiert wird und wir einen Einfluss darauf haben, wie schnell oder langsam sie vergeht. „Das bedeutet auch ein Stück Selbstverantwortung“, betont Prof. Pöppel. "So haben beispielweise Menschen, die sich in der Arbeit als fremdbestimmt erleben, oft das Gefühl, dass sie keine Zeit haben und im Stress sind." Wer etwas aus eigenem Antrieb heraus tut, erlebt die Zeit dagegen als erfüllter. Sie verfliegt, wie etwa bei Jörg Umkehrer wenn er meditiert. Menschen, die "die Zeit öfter mal vergessen", das haben Wissenschaftler herausgefunden, sind glücklicher und gesünder. Wer sich dagegen ständig in Zeitnot wähnt, gefährdet Körper und Seele. Prof. Ernst Pöppel zieht daraus eine provokante Forderung: "Jeder Mensch sollte im Berufsalltag mindestens eine Stunde am Tag ganz für sich haben und eine kreative Auszeit nehmen."

 

 

Wenn die Zeit nicht vergeht, herrscht Reizmangel.
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Keine Uhr gibt die gefühlte Zeit wieder.
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Unser Gehirn muss die Zeit aktiv zusammenhalten.
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Der Necker-Würfel: Draufstarren und abwarten. Unsere Sicht ändert sich alle drei Sekunden.
Beim Hinweg sieht die Welt bunter aus.
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"Unsere Gegenwart dauert drei Sekunden". Prof. Ernst Pöppel von der Universität München
Einfach mal die Außenzeit der Innenzeit anpassen.
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Kreative Auszeit.
Foto: mmchen / Photocase.com
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