"Ich höre tief"

Interview mit dem Jazzbassisten Paulo Cardoso

“Eines der besten Bass-Solos, das ich je gehört habe“, raunt ein Musiker seinem Nachbarn zu. Der nickt und starrt weiter auf die Bühne der Unterfahrt. Dort steht Paulo Cardoso über seinen Bass gebeugt und zupft sich die Seele aus dem Leib. Der Brasilianer entlockt dem sperrigen Kontrabass Farben, Rhythmen, Lyrik und erzählt mit jedem Solo musikalische Kurzgeschichten. 

„Er ist ein unglaublich melodischer Spieler“, beschreibt Musikerkollege Larry Porter den Bassspieler Cardoso. „Er besitzt alle rhythmischen und harmonischen Qualitäten eines Bassisten, aber – und das ist selten – hat ein melodisches Konzept wie jemand, der ein Blasinstrument spielt.“

 

Pauolo Cardoso

 

Seine Entscheidung für den Jazz traf Cardoso, Priestersohn aus Sao Paulo, erst nach seinem Studium der klassischen Musik Ende der 70er Jahre. Die Aussicht auf eine Stelle als Orchestermusiker hatte ihn nie gereizt und so zog es ihn in den „wilden 70ern“ nach München, der Stadt mit den vielen kleinen Clubs und einer vibrierenden Jazzszene. Zehn bis 15 Jahre, so die Einschätzung des Bassisten, dauert es bis man im Jazz seinen eigenen Stil gefunden hat. Inzwischen sind 25 Jahre vergangen und Cardoso hat seinen festen Platz in der europäischen Jazzszene.

Zuhause in seiner Wohnung am Rosenheimerplatz in München erzählt der Bassist bei einer Tasse Milchkaffee von seinem Leben und seiner Musik. Die ohnehin schon unglaublich tiefe Stimme ist durch eine Erkältung noch eine Terz nach unten gerutscht. „Ich suche nach schönen Intervallen“, erklärt er schlicht und schaut auf seine Hände, „dann plötzlich ist die Harmonie da und das Publikum spürt, die Musik ist der Spiegel meiner Seele."

Wie bist du zur Musik gekommen?

Paulo Cardoso: Mein Vater war Priester und ich spielte im Alter von sechs Jahren Euphonium in der Kirchenkapelle in Sau Paulo. Meine Mutter war sehr musikalisch und hat viel gesungen. Überhaupt wurde in Brasilien wahnsinnig viel gesungen und musiziert. So habe ich mit der Musik begonnen, ohne viel darüber nachzudenken.  Mit neun Jahren fing ich ernsthaft an, mich mit dem Cello zu beschäftigen. Die tiefen Instrumente haben mich von Anfang an am meisten fasziniert. Ich höre tief. Zum Bass kam ich vier Jahre später. Wie überall auf der Welt wurden Bassisten gebraucht und so lernte ich zusätzlich Kontrabass. Zunächst dachte ich, ich kann beides spielen, Cello und Bass. Aber das ist fast unmöglich und so entschied ich mich für den Bass.

Du hast dann klassische Musik in Deutschland studiert. Warum gerade Deutschland?

Paulo Cardoso: Deutschland, das Land von Bach und Beethoven, war ja damals berühmt für eine gute klassische Musikausbildung. Außerdem war ich in Sao Paulo in einer Clique von Jugendlichen, Kinder jüdischer Emigranten, die alle nach Deutschland wollten um dort Musik zu studieren. Ich bekam ein Stipendium für die Musikhochschule Trossingen in Baden Württemberg. Das war ein Schock. Ich kam aus einer brasilianischen Großstadt mit über 12 Millionen Einwohnern in ein deutsches Dorf mit 5000 Einwohnern. Es war keine schöne Zeit. Überall gab es Regeln, ich kannte die Sprache nicht, ich hatte eine andere Hautfarbe und wurde angefeindet. Ich habe dort vier Jahre Kontrabass studiert. Ich hatte einen sehr guten Lehrer, Prof. Maßmann. Er hat mir ein unglaublich fundiertes Grundwissen gegeben. Das ist für eine Musikerkarriere das wichtigste, was du haben musst. Nur das Grundwissen gibt dir die Freiheit, das Instrument wirklich zu beherrschen. Genauso wichtig, wie ein Schriftsteller die Sprache beherrschen muss.

Warum hast du dich nach deinem Studium der klassischen Musik dem Jazz zugewendet?

Paulo Cardoso: Es gab verschiedene Gründe. Einmal passte es nicht zu meiner Persönlichkeitsstruktur in einem Orchester einer von vielen zu sein, die genau das Gleiche spielen. Auch könnte ich mich nicht in eine Gruppe von Musikern einfügen, deren Ausdrucksweisen alle identisch sein sollen. Dafür braucht man eine Beamtenmentalität und auch eine Lieblosigkeit der Musik gegenüber, die ich nicht besitze. Im Jazz ist, im Gegensatz zur klassischen Orchestermusik, Individualität gefragt. Die Improvisation gibt dir die Freiheit, spontan deine Gefühle auszudrücken. Gerade diese Unmittelbarkeit ist mir wichtig. Als ich nach München zog, ging ich eines Abends ins Domicile, den berühmten Jazzclub in Schwabing. Dort hörte ich diese unglaubliche „Dschungelmusik“ von Art Blakey. Von diesem Moment an war alles klar. Ich wusste, was ich machen wollte.

War das nicht schwierig, aus dem klassischen Fach in den Jazz zu wechseln?

Paulo Cardoso: Zunächst sah ich den Jazz mit den angelernten Augen eines Klassikers. Improvisieren fiel mir schwer. Es ist eine Illusion zu denken, dass man von Anfang an seine eigene Sprache findet. Du lernst irgendwelche Licks (kurze Melodiemuster, Anm. d. Red.), Wortfetzen oder komplette Worte. Natürlich wirst du auch von anderen Musikern inspiriert und ihre Ideen gehen mit ein in dein Vokabular. Aber damit kannst du noch nicht sprechen. Es dauert zehn bis fünfzehn Jahre bis die eigene Sprache gefunden ist. Ich habe dann viel in Clubs gespielt, mit vielen verschiedenen Leuten und habe auf diese Weise meinen Stil entwickeln können. Heute wäre das nicht mehr so einfach möglich. Es gibt kaum noch Clubs, in denen sich die jungen Musiker austoben können. Früher hatten die Jazzclubs auch noch eine andere Funktion. Sie waren Treffpunkt und hatten eine wichtige soziale Bedeutung. Dort trafen sich nicht nur Musiker, sondern auch Maler und Schriftsteller. Heute kannst du als Musiker auch nicht mehr von Clubauftritten leben. Jazz spielt eine andere Rolle in der Gesellschaft – eine Außenseiterrolle. Egal, ob du in Hamburg, Berlin oder München bist, am Anfang bist du der Hit, dann wirst du ein „lokaler Künstler“ und damit uninteressant. Ein lokaler Musiker kriegt nie die Bühne, die ihm zustünde.

Hat es dich niemals gereizt in die USA, beispielsweise nach New York, zu ziehen?

Paulo Cardoso: Oh, doch. Ich war auch oft dort, aber ich hatte eine Familie in München und wollte meine Tochter groß werden sehen. Daher bereue ich es nicht, hier geblieben zu sein. Außerdem arbeite ich seit 12 Jahren als Dozent am Richard-Strauss-Konservatorium im Gasteig und habe hier meinen Dreh- und Angelpunkt. Auch gefällt mir Haidhausen – ich wohne jetzt über 20 Jahre hier. Dieses Viertel hat einfach ein Eigenleben. Wenn man nicht aufpasst, kommt man hier gar nicht raus. Leider hat sich aber in Haidhausen in den letzten Jahren viel verändert; die Seele ist wegsaniert worden.

Du hast bei 50 bis 60 Aufnahmen mitgespielt. Nun bringst du zum ersten Mal eine CD unter eigenen Namen heraus. Was bedeutet die CD für dich?

Paulo Cardoso: Es ist eine sehr persönliche Geschichte. Ich habe Sie für einen bestimmten Menschen aufgenommen. Die CD heißt „Songs of Joy and Gratitude“. An diesem Punkt in meinem Leben fühle ich mich vollkommen frei von der Idee, dass du immer etwas vollkommen Neues schaffen musst. Zu oft gerät man so in eine Sackgasse. Ich bin in den unterschiedlichsten Stilen zu Hause - Dixie, Latin, Swing, Bebop, Freejazz. Jetzt spiele ich einfach, was ich will - der Geist dieser CD ist „lebe“.


Erschienen 2005 in der Reihe "artbites - Interviews mit Haidhauser Künstlerinnen und Künstlern" in den Haidhausener Nachrichten 

Poet an den Saiten
Foto: OhWeh / creative commons
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